Requiem für eine unvollendete Anthese*, 2019
Performance
Seute Deern, Hamburg
Hauptbestandteil der Arbeit ist ein Blumenbouquet, bestehend aus typischen Schnittblumen der Friedhofsgärtnerei wie Lilie, Rose, Calla, Nelke, Chrysantheme und Gerbera, alle in der Farbe weiß, als auch einer bunten Mischung aus gesammelten Wild- bzw. Heilpflanzen wie Kamille, Calendula, Gilbweiderich, Lavendel, Wildrose, Minze, Distel, Kornblume, Zitronenmelisse, Labkraut und Heilziest.
Durch den Titel „Requiem für eine unvollendete Anthese*“ wird Bezug auf die Musik des avantgardistischen Komponisten Bernd Alois Zimmermann (geboren 1918 und gestorben 1970 durch Suizid), insbesondere sein Werk „Requiem für einen jungen Dichter“ genommen. Der Begriff Requiem bezeichnet sowohl die Liturgie der heiligen Messe bei der Begräbnisfeier der katholischen Kirche als auch kirchenmusikalische Kompositionen für das Totengedenken.
Einzelne Blumen oder Arrangements haben seit der Antike eine symbolhafte Bedeutung. Besonders im deutschen Kulturraum haben sich oben genannte Gattungen zur Ausstattung bei Beerdigungen und als Grabschmuck etabliert. So steht beispielsweise Calla für Unsterblichkeit, Lilie für die (religiöse) Reinheit, Chrysantheme für Beständigkeit und Gerbera für das (positive) Andenken.
Wildblumen hatten schon vor Jahrhunderten eine wichtige medizinische Bedeutung als Heilpflanzen und werden nach wie vor zur Herstellung von pflanzlichen Nahrungsergänzungsmitteln oder Kosmetika verwendet. Das Segelschiff steht in den Mythen der Menschheit als Archetyp für das Todesgeschehen und die Überfahrt. Der Hafen wird bildhaft als Ort der Rück- bzw. Heimkehr angesehen, der Sicherheit und Ewigkeit.
Das Bouquet ist eine Referenz an das barocke Vanitas-Stilleben. Der Vanitasgedanke – Ausdruck des menschlichen Selbstbewusstseins – steht insbesondere in Widerspruch zum Wunsch nach ewiger Jugend, Stärke, Schönheit etc. und nach dem unendlichen Leben. Solche Träume können weder durch leistungsfördernde Nahrungsergänzungsmittel, konservierende Kosmetika noch wirksamste pharmazeutische Produkte auf Dauer erfüllt werden. Aus den bunten Wildblumen ragen anmutig aber verheißungsvoll die weißen Lilien.
In übergeordnetem Kontext steht die gängige aber auch paradoxe Praxis, Schnittblumen – ab dem Augenblick, in dem sie geschnitten werden, dem Tode geweiht – als Requisite bei unterschiedlichsten Anlässen zu verwenden, um sich an ihrer Schönheit zu erfreuen, sie dann jedoch wenige Tage später zu entsorgen.
Für das Projekt „Performance/Intervention/Ausstellung Hamburg“ in Zusammenarbeit mit Raphael Sbrzesny und der Studienstiftung des deutschen Volkes auf der mittlerweile als Vergnügungsschiff genutzten Bark Seute Deern im Hamburger Hafen wurde das Bouquet zunächst an einem Rettungsring platziert – ähnlich einem Kreuz mit Blumen am Wegesrand. Am späteren Abend wurde der lose Strauß in Anlehnung an den Vorgang bei einer Seebestattung vom Schiff aus über Bord geworfen, sodass die verschiedenen Blumen auf dem Wasser trieben. Beides wurde fotografisch von Luca Thiel dokumentiert.
*Anthese = Blütezeit
[1.] bot. Zeitraum von Blütenentwicklung über Blühperiode bis zum Verblühen, also gesamter Vorgang der Blüte.
[2.] übertragen: Zeit, in der ein bestimmtes kulturelles Konstrukt (handwerklich, künstlerisch, politisch, wissenschaftlich) besonders gutentwickelt ist.